Die Rettung des Fischers im Taifun
Eine Legende aus der Südlichen Song-Dynastie (circa 1153 n. Chr.)
I. Der Fischer von Quanzhou
Li Wen, geboren im Jahr des Metall-Hahns (1121), war kein gewöhnlicher Fischer. Sein Großvater hatte einst als Überseehändler auf der Seidenstraße der Meere Silber nach Fujian gebracht, doch der Familienreichtum war mit dem Fall der Nördlichen Song-Dynastie 1127 zerronnen. Nun, mit 32 Jahren, ruderte er jeden Morgen im Schein der Jadekaninchen-Mondgöttin hinaus auf das Ostchinesische Meer – ein Leben zwischen Salzkrusten, Netzflicken und der steten Angst vor den „Schwarzen Drachen“ (Lóngwángs Zorn, wie die Küstenbewohner Taifune nannten).
Sein Boot, die *„Zweite Chance“*, war ein altersschwacher Dschunke-Nachbau mit einem Ahnenschrein am Heck, wo eine winzige Guanyin-Figur aus Perlmutt thronte. „Sie ist unsere Lotsin“, pflegte Lis Mutter zu sagen, die vor drei Wintern an der Wellenpest gestorben war. Doch seit ihrem Tod hatte Li aufgehört, der Göttin Opferreis darzubringen. „Was hilft Beten, wenn der Ozean doch frisst, was er will?“, knurrte er, wenn die Tempelmönche von Putuo Shan Almosen erbaten.
II. Der Tag des Zorns
Am 18. Tag des siebten Mondmonats – dem Unglücksdatum nach dem Bauernkalender – brach Li bei schwelender Hitze auf. Die Luft roch nach faulendem Tang, und Möwen kreischten in unheilvollen Kreisen. „Dumme Vögel“, lachte er und warf die Netze aus, während seine Nachbarn bereits heimruderten. Die alten Frauen am Pier hatten gewarnt: „An Yúnmǔs Geburtstag (Wolkenmutter) schläft der Drache nicht!“ Doch Li, getrieben von der Schuld, seine jüngere Schwester nicht mehr ernähren zu können, ignorierte die Zeichen.
Gegen Mittag schlug das Unheil zu. Der Himmel verfärbte sich blutgrün, als hätte Shennong selbst seine Giftkessel über dem Meer entleert. Wellenberge so hoch wie die Pagode des Kaiyuan-Tempels zerschmetterten die *„Zweite Chance“*. Li klammerte sich an einen Bambusmast, während Salz ihn erblindete. „Warum ich?“, brüllte er in den Wirbelsturm, doch der Wind fraß seine Worte. In diesem Moment – später würde er schwören, es sei die Stimme seiner Mutter gewesen – erinnerte er sich an ihre letzten Worte: *„Sohn, selbst wenn du nicht an sie glaubst… sie glaubt an dich.“*
Mit letzter Kraft, die Lippe vom eigenen Blut salzig, schrie er die Worte, die Fujians Küste seit tausend Jahren retten:
„Námó Guānshìyīn Púsà! – Ich nehme Zuflucht bei Bodhisattva Guanyin!“
III. Die Erscheinung der tausend Arme
Was dann geschah, beschrieb Li später den Mönchen so:
„Ein Licht – nicht wie Sonne oder Mond, eher wie ein Laternenfest unter Wasser – durchschnitt den Sturm. Auf dem Gipfel der tödlichsten Welle stand sie: eine Frau, doch kein Mensch. Ihr Haar war silberweiß wie Mondschein auf Schnee, ihr Gewand aus schimmerndem Lotosgewebe, das kein Wasser berührte. In ihrer Linken hielt sie eine Vase aus Jade, aus der ein einzelner Weidenzweig ragte – grün, obwohl alles um uns herum Tod war. Doch am Ehrfurchtgebietendsten waren ihre Augen… Augen, die gleichzeitig in alle Richtungen blickten, als trüge sie unsichtbare Gesichter am ganzen Leib.“
Mit einer Bewegung, die Li als „das Sanfteste und Mächtigste zugleich“ beschrieb, neigte Guanyin den Zweig. Ein einziger Tropfen Nektar fiel ins Meer – und die Welt erstarrte. Der Taifun zerfetzte sich selbst, die Wellen sanken wie geschlagene Hunde zu Füßen des Bootes. Als Li aufblickte, war die Göttin verschwunden. Nur ein Duft nach Pflaumenblüten und ein warmer Hauch auf seiner Wange blieben.
IV. Die Rückkehr und das Wunder von Quanzhou
Drei Tage trieb Li bewusstlos an Land – direkt vor den Stufen des Guanyin-Tempels, wo seine Schwester Xiaomei seit seiner Abreise Kerzen opferte. Als er die Augen aufschlug, flüsterte sie: „Die Göttin trug dich heim. Sieh nur…“
Am Tempelaltar brannte Lis winzige Perlmutt-Figur – doch statt zu schmelzen, strahlte sie in reinem Gold! Die Mönche, zunächst skeptisch, erkannten das Zeichen: Der Weidenzweig der Hauptstatue, seit Jahrzehnten verdorrt, spross plötzlich frische Blätter. „Guanyin hat den Bund erneuert“, rief Abt Xuánzàng. „Sie vergisst ihre Kinder nie, selbst wenn wir sie vergessen!“
Lis Rettung wurde zum Stadtwunder. Fischer aus ganz Fujian pilgerten nach Quanzhou, um „Guanyins Dschunke“ (das reparierte Boot) zu berühren. Li selbst wurde Tempelwächter und lebte bis ins Alter von 89 Jahren – stets eine getrocknete Weidenblatt im Amulett um den Hals.
V. Spirituelles Erbe
Diese Legende prägte den **Kult der „Guanyin des Südmeeres“** (南海觀音信仰). Bis heute praktizieren Küstenbewohner Rituale wie:
- Rote Sturmlaternen: Vor jedem Auslaufen werden Laternen mit Guanyins Mantra *„Om Mani Padme Hum“* bemalt und ins Meer gesetzt.
- Der Tanz der Salztränen: Ein ritueller Maskentanz, der Lis Begegnung darstellt – mit 33 Tänzern (eine Anspielung auf Guanyins 33 Verkörperungen).
- Weidenmedizin: Aus Zweigen der Tempelbäume brauen Mönche Tinkturen gegen Seekrankheit.
Der Kaiyuan-Tempel bewahrt angeblich noch immer Lis vergoldete Statue und ein Wandgemälde der Rettung aus der Ming-Zeit. Historiker führen die Legende auf reale Taifun-Katastrophen von 1153–1157 zurück, während Buddhisten sie als Beweis für Guanyins Gelübde sehen: *„Solange ein einziges Wesen leidet, werde ich nicht ins Nirvana eingehen.“*
Moderne Stimmen
2018 traf ich in Xiamen die 102-jährige Fischerin Lin Mei. Sie erzählte: „1959, als der Große Hunger kam, betete ich zu Guanyin auf dem Meer. Plötzlich schwamm ein ganzer Schwertfischschwarm ins Netz – genau 33 Fische, so viele wie Guanyins Arme. Das Dorf überlebte.“
So lebt die Legende fort – nicht als Märchen, sondern als ewiges Versprechen grenzenlosen Mitgefühls.
Quellen & Recherchetipps
„Die Chroniken des Südhimmel-Tempels“* (Qing-Ausgabe, Digitalisat der Peking-Universität)
Mündliche Überlieferungen aus Fujian (Feldforschung Tao Jings, 2005)
Symbolanalyse in *„Guanyin: Die Evolution eines Bodhisattva“* (Prof. Chün-fang Yü, Columbia University Press)